Aktuelles

Amnes­ty Inter­na­tio­nal Fachtagung

Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen an Men­schen mit psy­chi­schen Erkran­kun­gen, Epi­lep­sie und geis­ti­ger Behin­de­rung: Akti­ons­netz Heil­be­ru­fe von Amnes­ty Inter­na­tio­nal ver­an­stal­te­te inter­na­tio­na­le Fach­ta­gung in Kassel

Am 16.02.2019 fand im Gieß­haus der Uni­ver­si­tät Kas­sel eine Fach­ta­gung zum The­ma Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen an Men­schen mit psy­chi­schen Erkran­kun­gen, Epi­lep­sie und geis­ti­ger Behin­de­rung statt. Die Tagung wur­de von dem Akti­ons­netz Heil­be­ru­fe orga­ni­siert, von Amnes­ty Inter­na­tio­nal finan­ziert und in Simul­tan­über­set­zung zwei­spra­chig (Eng­lisch-Deutsch) durch­ge­führt. Anwe­send waren Mit­glie­der von Amnes­ty Inter­na­tio­nal, Ver­tre­ter von NGOs und ande­re Inter­es­sier­te, vie­le aus the­ra­peu­ti­schen Berufen.

La mala­die du demon – Krank­heit der Dämonen

Am Vor­abend der Tagung ent­führ­te die Regis­seu­rin  Lilith Kug­ler das Publi­kum mit ihrem inzwi­schen preis­ge­krön­ten Erst­lings­werk nach Bur­ki­na Faso und stell­te uns die Situa­ti­on psy­chisch und epi­lep­tisch erkrank­ter Men­schen vor. Psy­cho­seer­krank­te Men­schen wer­den zum eige­nen Schutz und dem der Gemein­de in Ver­schlä­gen ver­steckt und dort oder in der Natur an Bäu­me fest­ge­bun­den. Teils wer­den hier­für weit außer­halb lie­gen­de Gebets­camps in Anspruch genom­men, die nur in der unmit­tel­ba­ren Umge­bung bekannt sind und kei­ner Kon­trol­le unter­lie­gen. Dort wer­den sie von ihren Ver­wand­ten oder, falls die­se sie nicht auf­su­chen, von Mit­glie­dern des Camps mit Essen ver­sorgt. Die „ Behand­lung“ erfolgt meist aus­schließ­lich mit Gebe­ten, um die bösen Geis­ter aus­zu­trei­ben. Es gibt kei­ner­lei psych­ia­tri­sche Ver­sor­gung mit Medi­ka­men­ten. Die Erkrank­ten ver­brin­gen oft Jah­re unter einem Baum und der Film zeigt ein Bei­spiel, wie sich ein Betrof­fe­ner immer tie­fer in die Erde gräbt, und ande­re, die mit sich selbst spre­chen oder gar ganz ver­stum­men.  Ein­fühl­sam und ohne jedes Pathos stellt Lilith Kug­ler in der Beglei­tung eines Pfar­rers, Guitan­ga Tank­pa­ri, die Situa­ti­on in der Ver­sor­gung und die Hin­ter­grün­de für das Erle­ben und Han­deln der Men­schen vor Ort dar.  Der Pfar­rer sucht eini­ge Pati­en­ten auf und ver­sucht, sie von ihren Ket­ten zu befrei­en und für sie wie­der einen Platz in ihren Gemein­schaf­ten zu fin­den. Der christ­li­che Seel­sor­ger bemüht sich die her­ge­brach­te Kul­tur mit mensch­li­cher Beglei­tung und den Errun­gen­schaf­ten medi­zi­ni­scher Mög­lich­kei­ten zu ver­bin­den, um die Men­schen in die Zivi­li­sa­ti­on und Gesun­dung zurück­zu­brin­gen  Die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung geschieht über einen psych­ia­tri­schen Fach­pfle­ger, Timo­thée Tinda­no, der von weit­her anreist und zwei Tage im Monat eine ambu­lan­te Sprech­stun­de durch­führt. Die Ver­sor­gung mit Medi­ka­men­ten ist ein gro­ßes Problem.

Auch ein­zel­ne Betrof­fe­ne mit ihrem Schick­sal und auch ihren posi­ti­ven Krank­heits­ver­läu­fen, den Fol­gen der Erkran­kung für sie und ihre Fami­li­en den wer­den vor­ge­stellt. Die Situa­ti­on der Hel­fer in dem loka­len Hilfs­pro­jekt wird eben­falls ange­spro­chen.  Die Erkran­kun­gen wer­den in der loka­len Tra­di­ti­on als Aus­druck von Beses­sen­heit inter­pre­tiert, was dazu führt, dass die Dämo­nen ver­trie­ben oder gebän­digt wer­den müs­sen. Die Dämo­nen kön­nen auch auf ande­re Men­schen über­sprin­gen und so gera­ten auch die Hel­fer in Ver­dacht von den Dämo­nen infi­ziert zu sein. Der Film zeigt aber auch, wie mit ein­fa­chen Mit­teln eine ele­men­ta­re Ver­sor­gung ent­wi­ckelt wer­den kann. Die­se Ver­sor­gung wird gera­de mit der Hil­fe zwei­er deut­scher NGOs ausgebaut.

Die Regis­seu­rin war bei der anschlie­ßen­den Dis­kus­si­on anwe­send und hat auf die zahl­rei­chen Fra­gen geant­wor­tet. Inzwi­schen ist sie erneut in Bur­ki­na Faso, zeigt dort ihren Film – auch den Men­schen, die im Film mit­wir­ken – und sie und wir sind auf die dor­ti­ge Reso­nanz gespannt. Der Film kann für Vor­stel­lun­gen in Kinos und Ver­an­stal­tun­gen ange­fragt wer­den, um auch hier­zu­lan­de eine brei­te­re Öffent­lich­keit für das The­ma zu erreichen.

Die Posi­ti­on von Amnes­ty Inter­na­tio­nal zu Men­tal Health und Human Rights. Aus­gangs­punkt und Fragen

Micha­el Hup­pertz, Psych­ia­ter, Psy­cho­the­ra­peut, Sozio­lo­ge und Mit­glied des Akti­ons­netz Heil­be­ru­fe, führ­te in sei­nem Ein­füh­rungs­vor­trag in die The­ma­tik der lan­ge ver­bor­ge­nen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen an psy­chisch und epi­lep­tisch erkrank­ten Men­schen in Län­dern ohne rele­van­te psych­ia­tri­sche Ver­sor­gung ein. Er sprach aus men­schen­recht­li­cher Per­spek­ti­ve  über die Pro­ble­me, die sich auf dem Weg zu einer Ver­bes­se­rung ihrer Situa­ti­on stel­len. Wenn in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten von Miss­hand­lun­gen psy­chisch kran­ker Men­schen die Rede war, so im Zusam­men­hang mit Kri­tik an will­kür­li­chen und gewalt­sa­men Behand­lun­gen im Rah­men psych­ia­tri­scher Insti­tu­tio­nen. Aber immer schon und bis heu­te wür­den um ein Viel­fa­ches  mehr Men­schen außer­halb als inner­halb psych­ia­tri­scher Insti­tu­tio­nen ihrer ele­men­ta­ren Rech­te beraubt. Das lie­ge schlicht dar­an, dass es welt­weit etwa 1,5 Mio. Bet­ten in psych­ia­tri­schen Insti­tu­tio­nen incl. Hei­men gibt, aber min­des­tens 200mal so vie­le schwer psy­chisch kran­ke Men­schen in armen Län­dern, die kei­nen Zugang zu psych­ia­tri­scher Behand­lung haben. Erst seit etwa 10 Jah­ren wer­de das Pro­blem, das Fach­leu­ten schon lan­ge bekannt ist, vor allem durch inves­ti­ga­ti­ve Jour­na­lis­tin­nen und Jour­na­lis­ten an die Öffent­lich­keit gebracht. Auch Men­schen­rechts­or­ga­ni­sa­tio­nen incl. Amnes­ty Inter­na­tio­nal küm­mern sich bis heu­te wenig um die Situa­ti­on die­ses gro­ßen Teils der Bevöl­ke­rung. Es gehe also auch um eine Inklu­si­on die­ser Grup­pe in die Men­schen­rechts­be­we­gung. Anhand der Ent­wick­lung von Amnes­ty Inter­na­tio­nal führ­te er aus, wie die Orga­ni­sa­ti­on sich zunächst den poli­tisch Gefan­ge­nen und den bür­ger­li­chen und poli­ti­schen Rech­ten wid­me­te, sich spä­ter all­ge­mein für die Abschaf­fung von Fol­ter und Todes­stra­fe ein­setz­te. 2001 wur­de das Man­dat auf die Wah­rung aller Men­schen­rech­te ausgeweitet. 

Dabei wur­de bis­wei­len, aber nie umfas­send, auch die Lage psy­chisch kran­ker und behin­der­ter Men­schen berück­sich­tigt. Neu­er­dings scheint die The­ma­tik aber auf inter­na­tio­na­ler Ebe­ne stär­ker in den Fokus zu tre­ten, was durch wich­ti­ge inter­na­tio­na­le Kon­ven­tio­nen beför­dert wur­de. Dabei stel­len sich ver­schie­de­ne Pro­ble­me bzgl. der Koope­ra­ti­on mit regio­na­len und staat­li­chen Akteu­ren, der Ver­mit­tel­bar­keit des moder­nen Kon­zepts der Men­schen­rech­te in länd­li­chen Regio­nen, den Mög­lich­kei­ten von NGOs auf inter­na­tio­na­le Ver­hand­lun­gen und natio­na­le Gesund­heits­po­li­tik Ein­fluss zu neh­men. Gera­de NGOs, die sich vor Ort prak­tisch enga­gie­ren, müs­sen im Auge haben, dass sie nicht dazu bei­tra­gen, dass sich die Irr­we­ge der west­li­chen Psych­ia­trie beim Auf­bau der psych­ia­tri­schen Ver­sor­gung in Ent­wick­lungs­län­dern wie­der­ho­len. Ins­be­son­de­re der Auf­bau gro­ßer sepa­ra­ter psych­ia­tri­scher Ein­rich­tun­gen sei abzu­leh­nen, weil er inef­fi­zi­ent und teu­er sei und sol­che Insti­tu­tio­nen gera­de unter pre­kä­ren Bedin­gun­gen für Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen beson­ders anfäl­lig sind.  Zudem bestün­de die Gefahr, dass den Regie­run­gen der betrof­fe­nen Län­der, die in der Regel nur sehr wenig oder gar nichts für Men­tal Health aus­ge­ben, die Ver­ant­wor­tung für das The­ma see­li­scher Gesund­heit abge­nom­men wer­de. Bei dem effi­zi­en­ten und bezahl­ba­ren Auf­bau der psych­ia­tri­schen Ver­sor­gung inner­halb der all­ge­mei­nen dezen­tra­len und ambu­lan­ten Gesund­heits­ver­sor­gung kön­ne man sich dage­gen auf die inter­na­tio­na­le Exper­ti­se z.B. der WHO beru­fen. Micha­el Hup­pertz for­mu­lier­te zum Abschluss zahl­rei­che Fra­gen an die Teil­neh­me­rIn­nen der Tagung, deren Beant­wor­tung für ein mög­li­ches zukünf­ti­ges Enga­ge­ment von Amnes­ty Inter­na­tio­nal wich­tig sein könnte. 

Glo­bal Men­tal Health und Men­schen­rech­te – ein Über­blick über die aktu­el­le Situation

Wolf­gang Krahl vom Inter­na­tio­na­len Netz­werk zur Ent­wick­lungs­zu­sam­men­ar­beit im Bereich psy­chi­sche Gesund­heit e.V., Psych­ia­ter und Foren­si­ker an der Uni­ver­si­tät Mün­chen, der seit Jahr­zehn­ten  in ver­schie­de­nen Schwel­len- und Ent­wick­lungs­län­dern in For­schung, Aus­bil­dung und Koope­ra­ti­ons­pro­jek­ten tätig ist, stell­te ein­drucks­voll, aus­ge­hend von der Erklä­rung der Men­schen­rech­te dar, dass die geis­ti­ge Gesund­heit lan­ge Zeit bei der Rea­li­sie­rung die­ser Men­schen­rech­te ver­nach­läs­sigt wur­de. Fami­li­en gera­de in armen Län­dern wür­den als ein­zi­ge Unter­stüt­zer von psy­chisch Erkrank­ten aus Eigen- und Fremd­schutz zu zahl­rei­chen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen grei­fen, indem sie ihre Ange­hö­ri­gen etwa anket­ten und weg­schlie­ßen. Das bes­te Anti­stig­ma­pro­gramm sei eine gute Behand­lung und Reha­bi­li­ta­ti­on! Sie neh­me auch gleich­zei­tig die Last von den betrof­fe­nen Fami­li­en,  ent­las­te sie für ande­re Auf­ga­ben und Tätig­kei­ten und sei eine kon­kre­te Ent­wick­lungs­hil­fe. Hier­zu gehö­re dem Ziel­ka­ta­log der WHO fol­gend eine gute Erst­ver­sor­gung psy­chisch Erkrank­ter bis in die ört­li­chen Kom­mu­nen hin­ein, die Ver­fü­gung über Psy­cho­phar­ma­ka, die Aus­bil­dung von Exper­ten für Men­tal Health, die kei­ne Psych­ia­ter sein müss­ten, und dann auch die Auf­klä­rungs­ar­beit und Psy­choe­du­ka­ti­on über­neh­men soll­ten. Hier­zu bedarf es der staat­li­chen Imple­men­tie­rung und Ver­net­zung ver­schie­de­ner Sek­to­ren, ein Moni­to­ring und wei­te­re For­schungs­ar­bei­ten. Er wies dar­auf hin, dass auch in Euro­pa die Ent­wick­lung der Psych­ia­trie ein lan­ger Pro­zess war, der im 18. Jahr­hun­dert begon­nen habe und zu den ers­ten Befrei­un­gen psy­chisch Kran­ker aus ihren Fes­seln führ­te. Wolf­gang Krahl erin­ner­te auch an die welt­weit umfas­sends­ten und orga­ni­sier­tes­ten Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen in Deutsch­land zwi­schen 1933–1945. Im Rah­men des T4 Pro­gramms wur­den unter maß­geb­li­cher Betei­li­gung von Psych­ia­tern und Pfle­ge­kräf­ten 200.000 Erkrank­te sys­te­ma­tisch  ermor­det, vie­le zwangssterilisiert. 

Wolf­gang Krahl stell­te dar, wie­viel Geld die Staa­ten für die psych­ia­tri­sche Ver­sor­gung aus­ge­ben und wie weit die Sche­re zwi­schen Län­dern mit hohem und sol­chen mit nied­ri­gem Pro-Kopf-Ein­kom­men aus­ein­an­der­geht. Low und Lower-Midd­le-Inco­me-Coun­tries geben in der Regel unter 1% ihrer nied­ri­gen Gesund­heits­bud­gets, bis­wei­len auch gar nichts, für die Behand­lung die­ser Erkran­kun­gen aus. Dadurch hät­ten Mil­li­ar­den Men­schen kei­nen Zugang zu psych­ia­tri­scher Ver­sor­gung. Dabei sind die­se nach Infek­ti­ons­krank­hei­ten und Ver­let­zun­gen die häu­figs­ten Erkran­kun­gen über­haupt. Er zeig­te, zu welch dras­ti­schen Fol­gen dies für Betrof­fe­ne füh­ren kann. In der Regel sind tra­di­tio­nel­le Hei­ler die ers­te Anlauf­stel­le für Betrof­fe­ne und ihre Fami­li­en. Tra­di­tio­nel­le Heil­me­tho­den könn­ten auch immer wie­der für leich­te­re For­men von Depres­sio­nen, Abhän­gig­keits­er­kran­kun­gen und neu­ro­ti­schen Krank­heits­bil­dern erfolg­reich sein. Bei schwe­ren Depres­sio­nen, Schi­zo­phre­nie, bipo­la­ren Psy­cho­sen und Epi­lep­sie hin­ge­gen müss­ten zeit­nah psych­ia­tri­sche Behand­lun­gen, unter ande­rem mit Psy­cho­phar­ma­ka  und Anti­epi­lep­ti­ka zum Ein­satz kommen.

Psy­chi­sche Gesund­heit und Men­schen­rech­te an der Elfenbeinküste

Natha­lie Koua­k­ou von Amnes­ty Inter­na­tio­nal Elfen­bein­küs­te refe­rier­te zur Situa­ti­on in ihrem Land, in dem sie sich seit meh­re­ren Jah­ren für eine Imple­men­tie­rung von Men­schen­rechts­stan­dards auch im Gesund­heits­sys­tem stark macht. Gera­de psy­chisch Erkrank­te sei­en in der Wahr­neh­mung und Ver­tei­di­gung ihrer Rech­te beein­träch­tigt und ent­spre­chend beson­ders prä­de­sti­niert, Opfer von Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen zu wer­den. Obgleich die WHO das Recht auf psy­chi­sche Gesund­heit als einen zen­tra­len Bau­stein des Wohl­erge­hens defi­niert, wer­den von see­li­scher Erkran­kung, Epi­lep­sie oder Intel­li­genz­min­de­rung Betrof­fe­ne noch oft stig­ma­ti­siert, aus­ge­schlos­sen von Bil­dung, poli­ti­schen Debat­ten, Wah­len, Fami­li­en­grün­dung etc.  In der Elfen­bein­küs­te sei  die gan­ze The­ma­tik der Lebens­si­tua­ti­on psy­chisch Kran­ker marginalisiert.

Natha­lie Koua­k­ou stell­te die UN Kon­ven­ti­on über die Rech­te Behin­der­ter und den Men­tal Health Akti­ons­plan  vor, die über die medi­zi­ni­sche Behand­lung hin­aus sozia­le Ver­bes­se­run­gen für betrof­fe­ne Per­so­nen for­dern und dar­auf zie­len, Bar­rie­ren der Inte­gra­ti­on abzu­bau­en. Sie wol­len Ver­ant­wort­li­che und Ent­schei­dungs­trä­ger auf­merk­sam machen, anre­gen und auf Mög­lich­kei­ten hin­wei­sen, wie sie dazu bei­tra­gen kön­nen ent­spre­chen­de Leit­li­ni­en umzu­set­zen und die Rech­te der Betrof­fe­nen zu schüt­zen und zu gewähr­leis­ten. Die Kon­ven­ti­on zielt im Beson­de­ren aber  auf die Wohn‑, Lebens- und Behand­lungs­si­tua­ti­on, deren Stan­dards dem heu­ti­gen Wis­sens­zu­wachs Genü­ge tun muss. Es soll  auch ein ande­res Bild psy­chi­scher Erkran­kung in die Gesell­schaft getra­gen wer­den, etwa durch ver­bes­ser­te Auf­klä­rung der Bevöl­ke­rung. Ent­wür­di­gen­de Behand­lung und Unter­brin­gung soll­te eben­so geahn­det wer­den wie zunächst ein­mal den Betrof­fe­nen die Mög­lich­keit gege­ben wer­den muss, die­se zu bean­stan­den. Die Regie­rung soll­te Instru­men­te zur Ver­fü­gung stel­len, Pati­en­ten und deren Fami­li­en etwa auch in Form von Ver­bän­den und Selbst­hil­fe­grup­pen zu stär­ken. Gro­ße psych­ia­tri­sche Insti­tu­tio­nen in Groß­städ­ten soll­ten durch eine wohn­ort­nä­he­re psy­cho­so­zia­le und medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung ersetzt wer­den. Um dies alles zu gewähr­leis­ten, müss­ten in der Admi­nis­tra­ti­on staat­li­che Stel­len zur Koor­di­na­ti­on und Pla­nung geschaf­fen wer­den. Auch die Afri­ka­ni­sche Uni­on habe sich weit­ge­hend den Pos­tu­la­ten der WHO ange­schlos­sen, den­noch man­ge­le es an der Sicht­bar­ma­chung des Pro­blems im Land und dem enga­gier­ten Ange­hen durch das Gesund­heits­mi­nis­te­ri­um. Die pre­kä­re Situa­ti­on der man­geln­den Res­sour­cen einer­seits und des wenig enga­gier­ten Ange­hens der Umset­zung der Leit­li­ni­en ande­rer­seits beför­dert wie­der­um die Fort­set­zung der her­kömm­li­chen Prak­ti­ken des reli­gi­ös-kul­tu­rel­len Ver­ständ­nis­ses von see­li­schen Beein­träch­ti­gun­gen mit der Gefahr der fort­ge­setz­ten Miss­hand­lung, Miss­ach­tung und Aus­gren­zung der Betrof­fe­nen. Dazu gehö­ren auch sexu­el­ler Miss­brauch im Rah­men magi­schen Den­kens sowie Ent­füh­run­gen und Organentnahmen. 

Trotz des sonst dyna­mi­schen Pro­zes­ses in der Ent­wick­lung des Lan­des herr­sche hier das magi­sche Den­ken von Schuld, Magie, Beses­sen­heit vor. Zur ohne­hin schwa­chen medi­zi­ni­schen Ver­sor­gung des noch durch Fol­gen des Mili­tär­put­sches von 1999, ver­schie­de­ne Kri­sen und den Bür­ger­krieg 2002–2011 gezeich­ne­ten Lan­des  gibt es ein erhöh­tes Auf­kom­men von Trau­ma­fol­ge­stö­run­gen. Für die psych­ia­tri­sche Ver­sor­gung gibt es nur wenig Fach­kräf­te, und nur in 25% der Gesund­heits­di­strik­te gibt es über­haupt irgend­ei­ne Form von psych­ia­tri­scher Ver­sor­gung. Ande­rer­seits hat die Elfen­bein­küs­te in einer neu­en Ver­fas­sung 2016 fest­ge­legt, dass alle Men­schen mit Behin­de­rung vor Dis­kri­mi­nie­rung beschützt und nie­mand wegen sei­ner men­ta­len oder kör­per­li­chen Ver­fas­sung benach­tei­ligt wer­den darf.

In ihren abschlie­ßen­den For­de­run­gen unter­strich Natha­lie Koua­k­ou die Not­wen­dig­keit wei­te­rer Unter­su­chun­gen hin­sicht­lich  Epi­de­mio­lo­gie, sozio­lo­gi­scher Daten und Rechts­la­ge der betref­fen­den Krank­heits­bil­der an der Elfen­bein­küs­te, eine ver­bes­ser­te Erreich­bar­keit der Erst­an­lauf­stel­len in den Kom­mu­nen auch für psy­chi­sche Erkran­kun­gen, für die Inves­ti­ti­on in Aus­bil­dung von Fach­per­so­nal, aber auch von ehren­amt­li­chen  Frei­wil­li­gen in den dörf­li­chen Struk­tu­ren, um ein gutes Unter­stüt­zungs­netz­werk und Auf­klä­rungs­ar­beit aufzubauen.

Von West­afri­ka bis Süd­ost­asi­en: Trans­for­ma­ti­on des Zugangs zur psych­ia­tri­schen Ver­sor­gung durch die Qua­li­ty Rights der WHO und die Arbeit von CBM im Bereich der psy­chi­schen Gesundheit

Car­men Val­le ist als Bera­te­rin für Men­tal-Health-Pro­jek­te der Christof­fel-Blin­den-Mis­si­on (cbm) ins­be­son­de­re auch in Bezug auf Men­schen­rechts­bil­dung , in ver­schie­de­nen Län­dern Afri­kas und Asi­en tätig. Sie schloss sich mit der Dar­stel­lung den Erfah­rungs­wer­ten und Lösungs­mo­del­len ihrer Orga­ni­sa­ti­on an. Sie schil­der­te, wie es gelin­gen kann, basa­le Netz­wer­ke vor Ort zu schaf­fen, Ent­schei­dungs­trä­ger und Men­schen in der Ver­sor­gung von beein­träch­tig­ten Per­so­nen zu unter­stüt­zen. Cbm setzt u.a. auf soge­nann­te Peer­groups, d.h. auf Men­schen, die lebens­er­fah­ren sind und den Respekt der Gemein­de genie­ßen und gleich­zei­tig auf­ge­schlos­sen sind für die Imple­men­tie­rung einer sozi­al­psych­ia­tri­schen Ver­sor­gung in den Gemein­den und prak­tisch oft the­ra­peu­tisch wir­ken. Ein­drucks­voll stell­te sie  ein durch­dach­tes Kon­zept der ver­schie­de­nen Ebe­nen dar, wie die Län­der auch zukünf­tig ohne die zunächst flan­kie­ren­den NGOs das ein­mal auf­ge­bau­te Sys­tem eigen­stän­dig pfle­gen und wei­ter­ent­wi­ckeln kön­nen. Psy­chi­sche Gesund­heits­pfle­ge und Berück­sich­ti­gung der Situa­ti­on psy­chisch kran­ker, stig­ma­ti­sier­ter Men­schen mit Epi­lep­sie und geis­ti­ger Beein­träch­ti­gung soll­ten im Gesamt­kon­zept von Ent­wick­lungs­ar­beit inte­griert wer­den, etwa bei Bil­dungs­pro­jek­ten in Schu­len und Kin­der­gär­ten. Hier kann auch bereits der Inklu­si­ons­ge­dan­ke früh­zei­tig ein­ge­bracht wer­den, eben­so  wie bei Eltern- und Gemein­de­ver­samm­lun­gen. So wird auch die Acht­sam­keit gegen­über der beson­de­ren Gefähr­dung der Betrof­fe­nen für Über­grif­fe und Miss­hand­lun­gen und damit die sozia­le Kon­trol­le, die als Schutz die­nen kann, gestärkt. Das Kon­zept ihrer Orga­ni­sa­ti­on besteht dar­in bei not­fall­mä­ßig ange­for­der­ten Hil­fen in Schwel­len- und Ent­wick­lungs­län­dern etwa nach Erd­be­ben, Tsu­na­mi o.ä. neben den soge­nann­ten basic needs dann auch die see­li­sche Gesund­heit geson­dert in den Blick und die Arbeit vor Ort ein­flie­ßen zu las­sen. Welt­weit wer­den Vor-Ort-Trai­ner in Ers­ter Hil­fe in Bezug auf Erst­ver­sor­gung nach Trau­ma­ti­sie­rung ent­spre­chend den WHO Richt­li­ni­en ausgebildet.

Die Situa­ti­on trau­ma­ti­sier­ter Men­schen in Liberia

Susan­ne Gros­se, Sozi­al­wis­sen­schaft­le­rin an der Uni­ver­si­tät Kas­sel, sorg­te als Haus­her­rin der Ver­an­stal­tung mit dem Gieß­haus nicht nur für eine ange­neh­me Tagungs­at­mo­sphä­re, son­dern berich­te­te ihrer­seits ange­sichts ihres bevor­ste­hen­den For­schungs­auf­ent­hal­tes in Libe­ria nicht nur von der dort noch ähn­lich desas­trö­sen Situa­ti­on Betrof­fe­ner mit anschau­li­chem Film- und Bild­ma­te­ri­al, son­dern ver­deut­lich­te auch anhand der Pfle­ge­stan­dards in Deutsch­land, dass wir noch gar nicht solan­ge selbst von einer schlech­ten Ver­sor­gung ent­fernt sind. Die Psych­ia­trie-Enquete und Besu­cher­kom­mis­sio­nen hät­ten hier zwar für mehr Trans­pa­renz und Stan­dards gesorgt, bedürf­ten aber einer stän­di­gen Ver­bes­se­rung. Gera­de den betrof­fe­nen Men­schen fal­le es ja schwer, für ihre Rech­te ein­zu­ste­hen. In Pro­jek­ten in Libe­ria wer­den Men­schen für die psy­cho­so­zia­le Beglei­tung auch ins­be­son­de­re der zahl­rei­chen trau­ma­ti­sier­ten Men­schen im Land aus­ge­bil­det. Tau­sen­de ehe­ma­li­ger rekru­tier­ter Kin­der­sol­da­ten sind inzwi­schen erwach­sen und haben selbst Fami­li­en, tra­gen aber nicht sel­ten Trau­ma­fol­ge­stö­run­gen mit sich — mit wie­der­um gra­vie­ren­den Fol­gen für sich und die Gesellschaft.

Die prak­ti­sche Bedeu­tung inter­na­tio­na­ler Men­schen­rechts­kon­ven­tio­nen für die Ent­wick­lung der psych­ia­tri­schen Versorgung 

Mar­gret Oster­feld, Psych­ia­te­rin im Ruhe­stand und enga­giert  bei Akti­on Psy­chisch Kran­ke e.V.  war nicht nur enga­gier­te Kri­ti­ke­rin bei vor­he­ri­gen Vor­trä­gen, son­dern trug selbst von ihrer Tätig­keit beim UN Unter­aus­schuss zur Prä­ven­ti­on von Fol­ter vor, in deren Rah­men regel­mä­ßig Teams Ver­sor­gungs­ein­rich­tun­gen in ver­schie­de­nen Län­dern besu­chen und Berich­te erstel­len, inwie­fern ent­spre­chen­de Stan­dards zur Ver­sor­gung ein­ge­hal­ten bzw. miss­ach­tet wer­den und ver­bes­sert wer­den soll­ten. Die­se Teams haben in der Regel Zugang zu allen psych­ia­tri­schen Ein­rich­tun­gen und erstel­len Berich­te zu der men­schen­recht­li­chen Situa­ti­on in die­sen Ein­rich­tun­gen. Wenn sie kei­nen frei­en Zugang bekom­men, bre­chen sie ihre Tätig­keit ab. Die Berich­te wer­den an die zustän­di­gen Behör­den wei­ter­ge­lei­tet und Vor­schlä­ge zur Ver­bes­se­rung der Situa­ti­on gemacht. Eine Ver­öf­fent­li­chung dar­über hin­aus wird nicht ange­strebt, um die Koope­ra­ti­on mit den Regie­run­gen nicht zu gefährden.

Dis­kus­si­on auf dem Podi­um und mit dem Publikum

Die Vor­trä­ge — mode­riert von Mir­jam Ibold, Psy­cho­lo­gin, Mit­glied des Akti­ons­net­zes der Heil­be­ruf­ler ‑wur­den von leb­haf­ten Dis­kus­sio­nen beglei­tet, für die auch viel Zeit zur Ver­fü­gung stand. In der abschlie­ßen­den Podi­ums­dis­kus­si­on  — Mode­ra­ti­on: Gesi­ne Heet­der­ks, Psych­ia­te­rin und Neu­ro­lo­gin — ging es unter ande­rem um die Fra­ge, wel­che Kon­se­quen­zen sich für ein mög­li­ches Enga­ge­ment von Amnes­ty Inter­na­tio­nal erge­ben. Es bil­de­te sich ein Kon­sens her­aus, dass für die Ver­bes­se­rung der Situa­ti­on von Men­schen mit psy­chi­schen Erkran­kun­gen und Epi­lep­sie eine Dop­pel­stra­te­gie sinn­voll ist. Einer­seits kann eine nach­hal­ti­ge Ver­än­de­rung ihrer Situa­ti­on nur erreicht wer­den, wenn ent­spre­chen­der Ein­fluss auf die Regie­rung aus­ge­übt wird. Die betrof­fe­nen Staa­ten haben ver­schie­de­ne men­schen­recht­lich bedeut­sa­me Kon­ven­tio­nen, u. a. die wich­ti­ge Kon­ven­ti­on für die Rech­te von Men­schen mit Behin­de­run­gen von 2008, unter­schrie­ben. Sie kön­nen und müs­sen dar­auf hin­ge­wie­sen wer­den, dass die Situa­ti­on die­ser Men­schen eine Ver­let­zung ele­men­ta­rer Men­schen­rech­te dar­stellt. Ande­rer­seits jedoch erfol­gen Men­schen­rechts­ver­let­zun­gen wie die Anket­tung von Men­schen in aller Regel nicht aus sadis­ti­schen Moti­ven, son­dern ange­sichts feh­len­der Alter­na­ti­ven und Hilf­lo­sig­keit im Umgang mit den rät­sel­haf­ten Krank­hei­ten. Des­halb kann eine sol­che poli­ti­sche Stra­te­gie nur erfolg­reich sein, wenn zusätz­lich anhand geeig­ne­ter Pilot­pro­jek­te gezeigt wird, dass auch in armen Län­dern wie Bur­ki­na Faso, der Elfen­bein­küs­te oder Äthio­pi­en, wie Wolf­gang Krahl aus­führ­lich beschrieb, eine medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung die­ser Men­schen zu erschwing­li­chen Kos­ten mög­lich ist und daher in die staat­li­chen Gesund­heits­pro­gram­me über­nom­men wer­den kann. Es geht also nicht dar­um, die Regie­run­gen an den Pran­ger zu stel­len, son­dern sie anhand der­ar­ti­ger Pilot Pro­jek­te für eine Koope­ra­ti­on zu gewin­nen, und zwar in ihrem eige­nen Inter­es­se, weil auf die­se Wei­se ein fun­da­men­ta­les Men­schen­rechts­pro­blem in ihren Län­dern ange­gan­gen und viel­leicht gelöst wird.

Es geht dar­um, durch Auf­klä­rung über psy­chi­sche Erkran­kun­gen , Epi­lep­sie und geis­ti­ge Behin­de­rung und vor allem durch die rea­le Ver­bes­se­rung der Behand­lung und der Betreu­ung der Betrof­fe­nen einen ermu­ti­gen­den und hilf­rei­chen Umgang mit die­sen Men­schen zu för­dern. Die­se Auf­klä­rung und Ermu­ti­gung soll­te die Betrof­fe­nen und Ange­hö­ri­gen, die Gesund­heits­mit­ar­bei­ter, aber auch die Behör­den und die Zivil­ge­sell­schaft ein­be­zie­hen. Die Devi­se „ Don‘t bla­me“ soll­te so weit wie mög­lich berück­sich­tigt wer­den. Stel­lung­nah­men soll­ten für die ver­ant­wort­li­chen Regie­run­gen gesichts­wah­rend und rea­lis­tisch for­mu­liert wer­den, damit wei­te­re Unter­su­chun­gen, Über­prü­fun­gen der Ent­wick­lung, neue Vor­schlä­ge usw. in stän­di­ger Koope­ra­ti­on mit den Admi­nis­tra­tio­nen mög­lich sind.

Gud­run Brünner