Die Situation der Menschen mit einer chronischen psychischen Erkrankung oder Epilepsie ist in Westafrika weiterhin alarmierend. Bislang werden die meisten Erkrankten in sogenannten Gebetscamps aufgenommen, in denen sie keinerlei medizinische Versorgung erhalten. Sie werden dort mit Gebeten und traditionellen Methoden wie z. B. zwangsweise Fasten, Waschungen oder Mixturen, die sie zum Erbrechen bringen, behandelt. Etliche Betroffene, ob jünger oder älter, Frau oder Mann, werden angekettet, einige über Jahre bei ausbleibendem Erfolg der traditionellen Heilungsversuche.
Das Pilotprojekt SAMENTACOM für gemeindebasierte ambulante psychiatrische Behandlung
Das Modellprojekt SAMENTACOM wird von Prof. Médard Asseman Koua, einem ivorischen Psychiatrieprofessor von der Universität in Bouaké, geleitet. Es setzt sich zum Ziel, in den Einzugsgebieten von mehr als zehn Gesundheitszentren des Landes modellhaft eine gemeindenahe psychiatrische Versorgung aufzubauen. In den Gesundheitszentren werden die wichtigsten organischen Erkrankungen behandelt. Aber es gibt dort keine Behandlung psychischer Erkrankungen. Im Rahmen des Projekts wurden Krankenpfleger und –pflegerinnen sowie Gesundheitshelfer und ‑helferinnen (Agents de Santé) vom SAMENTACOM-Team ausgebildet. Die komprimierte Grundausbildung in Diagnostik und Therapie umfasst die häufigsten psychiatrisch-neurologischen Krankheitsbilder. Die Ausbildung ist so konzipiert, dass mit möglichst geringem Aufwand maximal viele Menschen behandelt werden können – ein wichtiges Prinzip in Ländern des Globalen Südens. Nach der Grundausbildung bieten die geschulten Pflegekräfte im Gesundheitszentrum Sprechstunden für Menschen mit psychischen Erkrankungen und Epilepsie an.
Ohne Außeneinsätze auf dem Land werden die erkrankten Menschen nicht gefunden
Wesentlich für das Gelingen des Projekts ist das aktive Aufsuchen der Patienten im Umland. So fahren die Gesundheitshelfer und –helferinnen z.B. auf Motorrädern in die Dörfer und Gebetscamps, um psychisch kranke oder an Epilepsie erkrankte Menschen zu finden. Oft erst durch diesen aktiven Einsatz können die Betroffenen einer psychiatrisch-neurologischen Behandlung zugeführt werden. Die Sprechstunden schließen in der Regel die Angehörigen mit ein.
Wiedersehen nach zwei Jahren — das Netzwerk für sozialpsychiatrische Arbeit wächst
Wegen der Covid-Pandemie konnten wir zwei Jahre nicht vor Ort sein. Umso erfreulicher war es für uns zu sehen, dass sich SAMENTACOM in der Zwischenzeit weiterentwickelt hat. Die Überzeugung, dass psychisch kranke Menschen und Menschen mit Epilepsie Hilfe bekommen müssen, hat sich inzwischen auch bei den offiziellen Stellen durchgesetzt, die wir besucht haben. Davon konnten wir uns im Gespräch mit der Gesundheitsdirektorin des Kreises Bouaké, in dem das Projekt begann, überzeugen. Sie war sehr zugewandt und sagte uns, dass sie erst durch die Informationen von SAMENTACOM und von dessen Initiator Prof. Koua von den Missständen und Menschenrechtsverletzungen erfahren habe, denen die Kranken ausgesetzt sind. Das habe sie sehr erschüttert. Anwesend war bei diesem Gespräch auch der örtliche Vertreter der WHO.
Spannungsfeld bei begrenzten Ressourcen: Zwischen Öffentlichkeitsarbeit und Netzwerken und Behandlungsqualität vor Ort
Die psychiatrisch ausgebildeten Pflegekräfte der Gesundheitszentren werden vom SAMENTACOM-Team aktuell vier bis sechsmal im Jahr vor Ort beraten und in gemeinsamen Sprechstunden supervidiert und fortgebildet. Hinzu kommen häufige Telefonate mit Professor Koua und seinem Team. Dem regelmäßigen Austausch zwischen den Pflegekräften und den Psychiaterinnen und Psychiatern des SAMENTACOM-Teams kommt große praktische Bedeutung zu. Er ist auf Grund des Mangels an Supervisoren, der Infrastruktur und der Kosten gleichzeitig der schwierigste Teil des Projekts. Wir setzen uns sehr für einen Ausbau dieser Tätigkeit ein.
Neben dieser sozialpsychiatrischen Arbeit vernetzen sich Professor Koua und seine Kollegen und Kolleginnen seit Jahren in Bouaké und der ganzen Elfenbeinküste mit Ärztinnen und Ärzten, Vertretern des staatlichen Gesundheits- und Sozialwesens, Menschenrechts- und Kirchengruppen und anderen NGOs, die für verwandte Ziele arbeiten.
Fachtag der Gesundheitszentren, die von SAMENTACOM betreut werden: Synergien, Schwachstellen und Erfolge im Austausch untereinander
Während unseres Besuches hatten unsere Partner mit Unterstützung des Gesundheitsministeriums eine Tagung in Bouaké organisiert.
Es wurde über die praktische Arbeit in den von SAMENTACOM betreuten Gesundheitszentren berichtet und über Herausforderungen und Perspektiven diskutiert. Anwesend waren auch Vertreter und Vertreterinnen der Regionalverwaltung, der Gesundheitsbehörde sowie der ärztliche Vertreter der WHO. Auch zwei Expertinnen von ivorischen NGOs informierten über ihre menschenrechtliche Arbeit und Erfahrung.
An dieser Tagung nahm auch der Repräsentant von Ärzte ohne Grenzen (Médecins Sans Frontières) in Bouaké teil. Er war durch SAMENTACOM auf die gemeindepsychiatrische Arbeit aufmerksam geworden und hatte dieses überzeugend gefunden. Ärzte ohne Grenzen stellt nun als zweite Organisation neben MCF-Deutschland finanzielle und personelle Hilfen zur Verfügung. Sieben zusätzliche Gesundheitszentren behandeln nun Menschen mit psychischen oder epileptischen Erkrankungen, wurden von Professor Kouas SAMENTACOM-Team ausgebildet und fachlich betreut, während Ärzte ohne Grenzen die Finanzierung übernimmt.
Auch zwei Journalisten eines neu gegründeten, auf Gesundheitsthemen spezialisierten Internet-Senders nahmen an der Tagung teil, machten Interviews und sammelten Statements, um diese zu verbreiten.
Netzwerkarbeit für das Recht auf Medikamente und Versorgung
Wir konnten uns davon überzeugen, wie sehr sich unsere Partnerorganisation dabei engagiert, die Not der Menschen mit psychischen Erkrankungen in der Öffentlichkeit sichtbar zu machen und dabei auch den Staat in die Pflicht zu nehmen.
Ein erster geforderter Schritt ist die kostenlose Abgabe der nötigen Medikamente für psychisch kranke Menschen, analog der bestehenden kostenlosen Abgabe von AIDS-Medikamenten. Denn die Armut der Menschen führt immer wieder zu Behandlungsabbrüchen.
Erfreulich ist es und zugleich ein großer Fortschritt, dass unsere Partner es inzwischen geschafft haben, mit Hilfe der deutschen Hilfsorganisation MEDEOR und der staatlichen Stelle für den Einkauf und die Verteilung von Medikamenten (NPSP) ausreichend Medikamente einkaufen zu können. So kommt es nicht mehr zu Unterbrechungen bei der Versorgung mit Medikamenten, wie es früher immer wieder der Fall gewesen ist.
Unterwegs: Das Gesundheitszentrum Brobo
In einem Distrikt in der Nähe von Bouaké, der die Stadt Brobo und 64 Dörfer umfasst, arbeiten im Gesundheitszentrum ein für die psychiatrischen Sprechstunden zuständiger Pfleger und zwei Gesundheitshelfer (Agents de Santé). Sie versorgen in ihrem Einzugsgebiet die Menschen mit psychischer Erkrankung oder Epilepsie. Wir fuhren mit auf die Dörfer, besuchten Patientinnen und Patienten mit psychotischen oder anderen Erkrankungen, die unter regelmäßiger Medikation wieder im Kreis ihrer Familie oder Bekannten leben. Durch eigene Arbeit können sie nun für sich sorgen oder das Familieneinkommen unterstützen.
Wir sahen aber auch einige kranke Menschen, die aufgrund finanzieller Schwierigkeiten nicht weiterbehandelt wurden und nun ein sehr isoliertes, ärmliches Leben in einer Hütte des Dorfes führten. Hatten ihre Angehörigen aus nicht eindeutigen Gründen nicht mehr für die Medikamente gezahlt, wurde die Beendigung der Medikamentenabgabe von manchen Mitarbeitern der Gesundheitszentren als gerecht und logische Folge empfunden. Hier sind Professor Koua und wir uns aber einig, dass das nicht im Sinne des Projekts ist. Wir stellen in solchen Fällen die Medikamente auch kostenlos zur Verfügung. Sie sind eigentlich preiswert und auch für ärmere Familien bezahlbar. Es ist sehr schwer, zu beurteilen, wann eine Zahlung wirklich nicht mehr möglich ist und wann es eine Frage der Motivation ist, vor allem bei langfristigen Behandlungen.
Bei unserem Besuch erzählten manche Angehörigen, dass in dieser Gegend die Ernten wegen Regenmangel durch den Klimawandel immer schlechter wurden – sicher ein Problem, das auch künftig eine Rolle spielen wird.
Wir begegneten auch Angehörigen, deren Mitgefühl und Fürsorge für ihre kranken Verwandten sehr begrenzt war. Man habe selbst oft nicht genug zum Essen, sagten sie uns. Wenn etwas übrig sei, gebe man es den Kranken, sonst nicht.
In einem der Dörfer zeigten uns die Gesundheitshelfer in einer Hütte ein ausgemergeltes 14-jähriges Mädchen, kaum ansprechbar, das aussah wie eine Sechsjährige. Der Vater sei Alkoholiker und kümmere sich nicht, die Mutter sei geflüchtet. Das Kind wies aufgrund einer Epilepsie gravierendste Entwicklungsrückstände auf. Hier konnte SAMENTACOM helfen, das Kind einer Behandlung und einer vorläufigen Pflegefamilie zuzuführen.
An diesem Tag wurden wir begleitet von der tatkräftigen Sozialarbeiterin des Gesundheitszentrums Brobo, die zuständig für diesen weitläufigen ländlichen Distrikt ist. Sie klagte, dass sie die Armut und die Not der Menschen sehe, sie auch aufsuche, aber dass sie über keinerlei staatliches Budget verfüge. Sie könne nur mit den Menschen reden, reden, reden und versuchen, Konflikte zu besprechen, Angehörige zu motivieren, sich zu kümmern. Aber damit seien ihre Möglichkeiten auch erschöpft – das mache ihre Arbeit so schwer.
Wir nahmen in zwei Dörfern, in denen Menschen mit psychischer oder epileptischer Erkrankung lebten, an Dorfversammlungen teil. Die Gesundheitshelfer klärten die Versammelten über die psychischen Erkrankungen auf, es konnten Fragen gestellt oder über Beobachtungen berichtet werden. Zwar herrscht immer noch die traditionelle Vorstellung vor, dass ein psychisch kranker Mensch von einem bösen Geist besessen ist. Aber es wächst doch auch das Interesse an den Hilfsmöglichkeiten der modernen Medizin, insbesondere wenn Menschen die Erfahrung machen, dass sie hilfreich ist.
Besuch im Gebetscamp Bethel
ir besuchten ein Gebetscamp im Einzugsgebiet des Gesundheitszentrums Brobo, das neben anderen Kranken auch 11 Frauen und Männer mit psychischer Krankheit oder Epilepsie beherbergte. Der evangelikale Leiter, der sich als Prophet Jeremiah vorstellte, empfing uns in der überdachten Gebetshalle. Wir durften uns als Gruppe in seiner Begleitung im Camp umsehen. Die Patienten und Patientinnen schliefen auf dem Fußboden in kleinen, nicht ausgestatteten Hütten.
Wir sahen fünf angekettete Menschen: ein wütend gestikulierender, schreiender Mann, dem sich niemand näherte; ein apathisch wirkender junger Mann mit Verdacht auf Epilepsie; eine junge Frau; ein mit sich sprechender, manieriert gestikulierender junger Mann und ein Siebzehnjähriger, der in schlechtem Allgemeinzustand in der Hütte lag. Er hatte seine Vorbereitung für die Abschlussprüfung der Schule wegen der Erkrankung unterbrochen. Seine Eltern hatten ihn aus Not in das Gebetscamp gebracht, so wie die meisten Kranken von ihren eigenen Familien in der Hoffnung auf Heilung dorthin gebracht werden. Professor Koua bat Jeremiah, die Angeketteten kostenlos in seiner nahegelegenen Ambulanz untersuchen zu dürfen. Dieser antwortete, er sei prinzipiell zur Kooperation bereit, müsse jedoch zuvor die Angehörigen fragen. Auch war der Leiter durch andere Anwesende informiert, dass das Gefangenhalten im Gebetscamp nicht gesetzeskonform ist und ihm Probleme bereiten könne. Am nächsten Tag wurde uns auf Anfrage mitgeteilt, dass die Angehörigen ihre Zustimmung verweigert hätten. Die Mitarbeiter von SAMENTACOM werden sich mit dieser Antwort nicht zufriedengeben und weiter versuchen, den Leiter des Camps zu einer wirklichen Kooperation zu bewegen. Das könnte ein langer Weg sein.
Der Leiter des Gebetscamps erzählte uns, es gebe Menschen, die seien psychisch krank, andere seien von bösen Geistern besessen. Auf die Frage, wie er das unterscheiden könne, berief Jeremiah sich auf seine von Gott geschenkte Gabe. Er wisse den Unterschied einfach. In uns sträubte sich etwas angesichts dieser Selbstgewissheit. Aber Prof. Koua blieb geduldig und erklärte ihm, dass seine eigenen Augen und die Augen des Propheten die Dinge unterschiedlich sehen.
Es gibt in der Elfenbeinküste viele Gebetscamps. Sie sind nirgends registriert und brauchen keine formale Erlaubnis, um Menschen zu behandeln. Im Prinzip kann jeder ein Gebetscamp gründen. Für die Angehörigen, die sich durch die Krankheit ihrer Familienmitglieder überfordert fühlen, ist ein Gebetscamp der nahe liegende Ausweg.
Will man sich einen Überblick darüber verschaffen, wo und wie in der Elfenbeinküste psychisch kranke Menschen leben, müssen die Gebetscamps erfasst werden. In einer von unserer Stiftung finanzierten Untersuchung wurden 2021 im ganzen Land 550 Gebetscamps gefunden, in denen sich psychisch kranke Menschen aufhalten. Die Gebetscamps werden vielfach von christlich-evangelikalen, aber auch muslimischen oder naturreligiösen Heilern geleitet. Wir gehen davon aus, dass es in der Elfenbeinküste noch viel mehr als die genannten Gebetscamps gibt als jene, die in der Untersuchung gefunden wurden.
Besuch der Psychiatrischen Universitätsklinik Bouaké
Wir besuchten auch die psychiatrische Abteilung der Universitätsklinik in Bouaké. Die Klinik dient für das Projekt SAMENTACOM als Ergänzung der ambulanten Versorgung in seltenen Fällen. Die Ausstattung ist extrem einfach, dabei sauber. Hier werden maximal 20 Patientinnen und Patienten behandelt, bei denen eine ambulante Behandlung nicht ausreicht. Die Behandlungszeiten sind möglichst kurz und sollten laut Prof. Koua acht Tage nicht überschreiten.
Während der Behandlung wird auf ausreichende Ernährung und Hygiene geachtet. Eine freundliche Köchin kocht für die Patienten, damit sie auch körperlich in einer guten Verfassung sind.
Die sanitären Einrichtungen, maroden Elektroleitungen und Außenwände wurden renoviert. Unsere Stiftung hatte die Renovierung über eine Sonderspende finanziert.
Liebe Freundinnen und Freunde unseres Projekts! Einige von euch hatten für die Renovierung der damals heruntergekommenen psychiatrischen Klinik gespendet.
Wir sind mit vielen und reichen Eindrücken von unserer Reise zurückgekommen. Will man ein Resümee ziehen, dann sind es vor allem diese Herausforderungen, die wir für die Zukunft sehen:
Dr. Gesine Heetderks und Dr. Fariedeh Huppertz