von Gesine Heetderks und Michael Huppertz
Mindful Change Foundation
Wir haben vom 1. bis 11. April 2019 eine Reise in die Elfenbeinküste unternommen, um uns einen Einblick zu verschaffen, wie das von unserer Stiftung geförderte Projekt SAMENTACOM (Santé Mentale Communitaire) in Bouaké, das eine sozialpsychiatrisch orientierte Versorgung der Menschen mit psychischen Erkrankungen und Epilepsie implementieren will, vorangekommen ist und wie es weiterentwickelt werden kann. Das Projekt wurde –ausgelöst durch die verstörenden Berichte über psychisch kranke Menschen, die unter entwürdigendsten Bedingungen in den armen Ländern Afrikas und Asiens ihr Dasein ohne medizinische Hilfe fristen — bei unserem Aufenthalt in der Elfenbeinküste im Januar 2018 in die Wege geleitet und hat seither die Arbeit aufgenommen.
Unser jetziger Besuch war vom Leiter des Projekts, dem ivorischen Psychiater Prof. Koua von der Universität in Bouaké, und von seinem Mitarbeiterstab sorgfältig vorbereitet und organisiert worden. Zu dem verantwortlichen Team gehören neben Prof. Koua ein weiterer Psychiater sowie zwei noch in der Ausbildung befindliche Psychiaterinnen, ein Soziologe, ein Agent de Santé (Mitarbeiter in einem der Gesundheitszentren), ein Pharmakologe, ein Jurist, zwei Geographen und eine Assistentin. Wir wurden in die Arbeit an allen für das Projekt relevanten Baustellen einbezogen. Wir nahmen an etlichen Diskussionen mit Mitarbeitenden, aber auch mit Patienten und Angehörigen teil, und Anregungen unsererseits im Blick auf die laufende Arbeit und die weitere Entwicklung des Projekts wurden gerne aufgenommen. Auch kritische Fragen waren willkommen.
Die thematischen Schwerpunkte unserer Reise waren:
1. Die Entwicklung der psychiatrischen und neurologischen Arbeit in den bestehenden Gesundheitszentren;
2. Fortbildungen zu psychosozialen Aspekten der Behandlung und Weiterentwicklung der Supervisionen;
3. die Zusammenarbeit mit den Camps de Prière (CdP);
4. die Zusammenarbeit mit der nationalen Pharmaziebehörde zur
Sicherstellung der Versorgung mit Medikamenten.
1. Die Entwicklung der psychiatrischen und neurologischen Arbeit in den bestehenden Gesundheitszentren
Es gibt in der Elfenbeinküste eine flächendeckende Versorgung mit kleinen, einfachen Gesundheitszentren, die für alle gesundheitlichen Fragen zuständig sind, aber in der Regel keine psychiatrisch oder epileptisch erkrankten Patienten behandeln. Deshalb ist es das Ziel, diese Gesundheitszentren zu befähigen, sich auch dieser Patienten annehmen zu können. SAMENTACOM hat daher ein Pilotprojekt in 10 Gesundheitszentren zumeist in der ländlichen Umgebung von Bouaké initiiert. Dabei wurde bislang untersucht, welche psychiatrischen Hilfen es dort bereits gibt, es wurden psychiatrische Sprechstunden eingerichtet und es wurde mit deren regelmäßiger Supervision durch den Mitarbeiterstab von Prof. Koua in Gestalt von gemeinsamen Behandlungen vor Ort begonnen. Als ein Hauptproblem des Projekts hat es sich dabei erwiesen, die Patienten überhaupt in den Dörfern und Camps de Prière aufzufinden, sie also sichtbar zu machen und ihnen eine Behandlung zu ermöglichen. Dies muss künftig verstärkt zu den Aufgaben der Agents de Santé gehören, die im Rahmen des Projekts ausgebildet werden.
Die medikamentöse Behandlung von Psychosen und Epilepsien stellt einen unverzichtbaren Fortschritt dar. Es wurde immer wieder die Notwendigkeit einer psychosozialen Zusatzfortbildung deutlich für diejenigen, die mit psychisch Kranken arbeiten, nicht nur, damit sie besser auf deren seelische Situation und soziales Umfeld eingehen können, sondern auch, um selbst mit Schwierigkeiten im Umgang mit psychisch Kranken besser zurechtkommen zu können. Eindrücklich war für uns ein Treffen mit ca. 50 katholischen Schwestern, von denen einige einen Gesundheitsposten leiten und mehrere eine psychiatrische Ausbildung bei Prof. Koua gemacht haben. Sie wirkten intrinsisch hochmotiviert, und gleichzeitig berichteten sie im Gespräch von vielen Situationen mit psychisch Kranken, in denen sie sich hilflos fühlten und teilweise auch Angst hatten. Es wurde der Wunsch nach monatlichen Supervisionen geäußert, und es wurde deutlich, dass sie viel Unterstützung brauchen.
2. Fortbildungen zu psychosozialen Aspekten der Behandlung und Weiterentwicklung der Supervisionen
Wir erlebten eine Supervision in einem der zehn Gesundheitsposten des Projekts. Einer der Pfleger dort hat an der psychiatrischen Grundausbildung bei Prof. Koua teilgenommen. Die Sprechstunde wurde von diesem Pfleger zusammen mit einem Psychiater des Teams durchgeführt. Das soll in Zukunft einmal im Monat in dieser Weise stattfinden. In der Sprechstunde hatten die meisten Patienten eine Epilepsie, manche hatten Rückfälle, weil sie die Medikamente nicht weiter genommen hatten, andere wurden erstmalig eingestellt. Eine Patientin war dreimal angekettet gewesen, einmalig antipsychotisch behandelt und bei erneuten psychotischen Schüben in ein Gebetscamp gebracht worden.
Auffällig war, dass der Pfleger sich eher an die Angehörigen mit ihren Fragen wandte, als an die Patienten selbst. Der Ton war kurz und bündig, es schwang wenig erkennbare Anteilnahme mit. Es gab häufige Unterbrechungen durch Handyanrufe. Die Patienten verhielten sich eher unterwürfig. Andere Mitarbeiter nehmen sich viel Zeit im Gespräch mit Patienten und Angehörigen, zeigen auch viel Geduld, aber es geht natürlich schneller, wenn man mit den Angehörigen spricht. Dem Patienten gegenüber werden Entscheidungen nicht begründet oder gar ausgehandelt, so unser Eindruck.
Parallel zur Sprechstunde führte Prof. Koua zusammen mit einem Mitarbeiter eine erste Fortbildung für die dortigen Agents de Santé über das Erkennen und den Umgang mit psychisch und epileptisch kranken Menschen durch. Ihre Aufgabe wird es sein, in die Dörfer zu gehen und die Kranken zu ermutigen, in die Sprechstunde zu kommen, mit den Familien zu sprechen und während der Behandlung mit den Kranken Kontakt zu halten. Diese Ausbildung ist ein wichtiger Teil unseres Projekts. Es waren 8 Agents de Santé anwesend, darunter eine Frau. Die Agents waren sehr beteiligt, schilderten Problemfälle. Sehr klar war die Botschaft von Prof. Koua, dass sie in Zukunft die Aufgabe bekommen sollen, Verdachtsfälle an ihr Zentrum zu melden, dass sie aber keine Diagnose stellen müssen und natürlich auch keine Behandlung durchführen sollen. Vielmehr geht es darum, dass sie den Kontakt zwischen den Patienten und ihren Dörfern und den Gesundheitszentren herstellen und sie begleiten. Sie kennen die Kranken in den Dörfern und in den CdP.
Im Hinblick auf die psychologische Schulung und Fortbildung des SAMENTACOM-Teams im Umgang mit psychisch kranken Menschen ist es uns gelungen, einen klinischen Psychologen aus Abidjan zur Mitarbeit zu gewinnen. Die Idee ist, dass er zusammen mit Prof. Koua eine Broschüre erstellt, in der die wichtigen Elemente des psychologischen Umgangs erläutert werden. Dieses Team kann dann wieder die Ausbildung in den einzelnen Gesundheitsposten übernehmen.
3. Zusammenarbeit mit den Camps de Prière (CdP)
Bei den CdP handelt es sich um Dörfer mit geistlichem Angebot, die in der Regel gegen Bezahlung psychisch und epileptisch erkrankte Menschen aufnehmen, zumeist über lange Zeit, dies auch gegen den Willen der Betroffenen auf Wunsch von deren Angehörigen. Psychische Erkrankungen und Epilepsie werden hier religiös gedeutet als Besessenheit durch böse Geister, und so besteht die Behandlung in Beten und teilweise auch in Torturen, denen die Kranken unterworfen werden, um die bösen Geister aus ihnen auszutreiben. Damit die Patienten nicht weglaufen oder Schaden anrichten, werden sie oft unter freiem Himmel an Bäume angekettet, nicht selten über Jahre hinweg. Der Weg der Patienten führt in der Regel über Heiler, die traditionelle Medizin praktizieren, in die Gebetscamps, die mehrheitlich evangelikal ausgerichtet sind, wobei traditionelle religiöse Elemente eine mehr oder weniger große Rolle spielen. In Anbetracht der Hilflosigkeit vieler Angehöriger im Umgang mit psychischen Erkrankungen erscheint ihnen die Unterbringung der Kranken in Gebetscamps häufig als die einzig mögliche Lösung. Den Camps de Prière kommt daher eine zentrale Bedeutung zu, und die Entwicklung einer konstruktiven Zusammenarbeit mit ihnen ist – wenn sie gelingt – eine Chance für den Aufbau einer psychiatrischen Versorgung in Westafrika.
Bislang gibt es keinerlei Überblick darüber, wie viele Camps de Prière es gibt und wo sie sich befinden. Sie sind nirgendwo registriert, und jeder kann ein solches Camp gründen. Ziel muss daher eine nationale Erhebung in dieser Sache sein. Dazu wurde von SAMENTACOM eine Pilot-Enquête in der Umgebung von Bouaké durchgeführt und in einer sehr gelungenen Broschüre dargestellt. Erfasst und kartographiert wurden 71 CdP, von denen 40 besucht wurden. Rechnet man dies für die Elfenbeinküste hoch, so müsste es um die 2000 CdP in diesem Land geben.
Der Pilot-Erhebung zufolge sind die allermeisten CdP zur Kooperation bereit. Wir haben mehrere CdP besucht, auch eines, in dem wir schon im vergangenen Jahr gewesen sind. Dort stellte sich allerdings nach einem sehr freundlichen Empfang heraus, dass die religiösen Leiter beschlossen hatten, nur noch mit den Patienten zu beten und keine medikamentöse Behandlung durch das SAMENTACOM-Team mehr zuzulassen. Im Gespräch mit den Dorfältesten ermahnte Prof. Koua alle, die Behandlung zuzulassen, da sie andernfalls mit dem Gesetz in Konflikt kommen würden. So sahen wir in dem Lager drei angekettete Patienten -, einen davon hatten wir schon vor einem Jahr dort angekettet gesehen -, die ohne psychiatrische Hilfe dort ihr Dasein fristen mussten. Über die Motive der Leiterin, die Zusammenarbeit zu verweigern, kann man nur spekulieren. Auf alle Fälle hätten vielleicht ein regelmäßigerer Kontakt und regelmäßige Gespräche einen solchen Bruch verhindern können – auch mit der klaren Botschaft, dass das Festhalten von Patienten mit der gleichzeitigen Weigerung, ihnen Hilfe zukommen zu lassen, ein Gesetzesverstoß und eine Menschenrechtsverletzung ist, die nicht toleriert wird. Allerdings scheint die Rechtslage und insbesondere die menschenrechtliche Dimension eines solchen Handelns allgemein ziemlich unbekannt zu sein. Für künftige derartige Konflikte mit CdPs ist es daher wichtig, sich hinsichtlich der Rechtsgrundlagen kundig zu machen und auch die zuständigen polizeilichen Stellen für diese Problematik zu sensibilisieren.
Deutlich ist aber auch geworden, wie wichtig es ist, die Patienten und ihre Angehörigen darin zu unterstützen, dass sie ihre Belange und Interessen selbst zu artikulieren und zu vertreten lernen. In einem Dorf zeigten wir den beeindruckenden Film: La Maladie du démon von Judith Kugler. Eine Anregung von Prof. Koua bei diesem Treffen, mit Patienten und ihren Angehörigen, eine Selbsthilfegruppe zu gründen und dazu auch die örtlichen Autoritäten und die Polizei einzuladen, stiess dort auf breite Resonanz. Die Gründungsversammlung wurde für Ende Mai in Aussicht gestellt.
4. Zusammenarbeit mit der nationalen Pharmaziebehörde zur Sicherstellung der Versorgung mit Medikamenten
Gemeinsam mit Prof. Koua hatten wir ein Treffen mit Vertretern der Nationalen Pharmaziebehörde für den öffentlichen Sektor (NPSP). Ziel war es, eine Übereinkunft mit der NPSP zu erreichen, die dazu führt, dass sie die Medikamente für die Zentren, die an unserem Projekt beteiligt sind (und möglicherweise für weitere in der Zukunft), bestellen, bezahlen und an die Zentren kostengünstiger als in den Pharmazien abgeben. Bislang hatten wir Medikamente in Zusammenarbeit mit Medeor in die Elfenbeinküste geschickt. Medeor ist eine deutsche NGO, die Medikamente kostengünstig in arme Länder liefert.
Die NPSP gibt die Medikamente nicht umsonst ab, sondern verkauft sie – allerdings billiger als die Apotheken – an die Krankenhäuser, Centres de Santé etc. Letztlich werden sie dort wieder von den Patienten und ihren Angehörigen bezahlt. Von einer für die Patienten kostenlosen Lieferung kann also keine Rede sein, außer bei Tuberkulose, HIV-Infektionen und wenigen anderen Erkrankungen. In diesen Fällen liefern internationale Fonds die Medikamente, und die Auslieferung ist umsonst. Auch bei anderen Medikamenten gibt es oft Spendenbeteiligungen durch internationale NGOs.
Bei dem Treffen wird deutlich, dass die NPSP sich nur engagieren will, wenn die Quantität der benötigten Medikamente so groß ist, dass sich für sie ein Engagement lohnt. Dafür will sie eine Datenerhebung der verbrauchten und in Zukunft benötigten Medikamente. Inzwischen ist die Entscheidung gefallen, dass diese Datenerhebung durch die NPSP demnächst in allen bekannten Zentren erfolgen soll, die Patienten mit Epilepsie und schweren psychischen Erkrankungen in relevanter Anzahl behandeln, und dass auf dieser Basis dann in Zukunft die Medikamente von der NPSP selbst beschafft werden sollen.
Ergebnisse und Aufgaben:
1. Die Bilanz für 2018/19 (bis 31.3.2019) haben wir gesehen, sie ist in Ordnung. Die Planung für 2019/20 wird skizziert, eine detaillierte Planung folgt.
2. Die Zahlungen der Patienten für Medikamente, die von uns bzw. Medeor geliefert werden, sollen registriert werden und an das Projekt zurückfließen. Sie sollen zur Finanzierung evtl. notwendiger weiterer Medikamente und auch für die Arbeit der Zentren eingesetzt werden, z. B. zur Finanzierung von Motorrädern oder Gehältern der Agents.
3. Es werden 20 Agents de Santé speziell für psychisch und epileptisch kranke Menschen ausgebildet. Davon werden 10 in Zukunft von uns finanziert (für 5 Zentren jeweils 2). Wir sind auch bereit die Sachkosten für die Agents zu übernehmen. Hauptproblem des Projekts wird weiterhin sein, die Patienten überhaupt in den Dörfern und CdP zu finden und ihnen eine Behandlung zu ermöglichen. Diese Funktion können und müssen hauptsächlich die Agents erfüllen.
4. Es wird eine monatliche Supervision durch die Psychiater des Projekts angestrebt.
5. Es werden vorerst keine weiteren zentralen Fortbildungen durchgeführt, weil bereits genügend Krankenschwestern und ‑pfleger für diese Phase des Projektes ausgebildet wurden. Stattdessen soll es dezentrale Fortbildungen vor Ort in den Gesundheitszentren geben sowie Fortbildungen für die Mitarbeiter der CdP. Die Idee ist, die CdP zumindest teilweise weiter zu nutzen, indem sie als wirkliche Heilstätten mit Kontrollen und Auflagen aufgewertet werden. Es muss sich freilich erst noch zeigen, wie viele CdP hierzu bereit sind und die therapeutischen Konzepte verstehen. Wo möglich, könnten und sollten auch Fortbildungen für die Polizei angeboten werden.
6. Zusätzlich soll ein Guide für die psychologische Fortbildung durch den hinzugezogenen Psychologen und Prof. Koua erstellt werden, der zuerst für die Equipe von SAMENTACOM und dann für die Mitarbeiter in den Gesundheitszentren verbindlich sein sollte.
7. Wir werden eine Nationale Enquête zu den Camps de Prière unterstützen. Sie soll bis Ende des Jahres durchgeführt werden. Inhaltlicher Träger ist die Universität von Bouaké. Prof. Koua stellt den Antrag und macht die Kalkulation. Wir kümmern uns um die Finanzierung, sei es durch uns und/oder durch kooperierende Stiftungen.
8. Die Medikamentöse Therapie wird in differenzierterer Form fortgesetzt. Nebenwirkungen sollten mehr Beachtung finden, und ebenso sollte der Compliance, auch der Angehörigen und der CdP, mehr Aufmerksamkeit gewidmet werden.
9. Die Daten zum Medikamentenbedarf in den Zentren werden von der NPSP erhoben.
Es ist geplant, dass sie anschließend wie bei allen anderen Krankheiten die Lieferung der Medikamente für psychisch und epileptisch Erkrankten übernimmt.
10. Die Rechtslage bezüglich Menschenrechtsverletzungen muss klarer werden. Diesbezüglich müssen wir uns über das nationale Recht kundiger machen.
11. Es wurde uns empfohlen, eine Konvention zwischen unserer Stiftung und dem ivorischen Staat auszuhandeln; unsere Anerkennung als NGO in der Elfenbeinküste kann unsere Arbeit in diesem Land mit den Behörden erleichtern. Das ist in Vorbereitung.
12. Die Anzahl der Zentren im Projekt soll noch nicht erhöht, sondern vielmehr die Qualität und Quantität der Arbeit in den Zentren verbessert werden. Evtl. werden dann schrittweise einzelne Zentren hinzugenommen, möglichst solche, die schon in der Arbeit stecken und evtl. auch religiös orientiert sind, auch wenn wir uns darin einig sind, dass dies ein Modell für das ganze Land ist und früher oder später landesweit ausgedehnt werden sollte und kann.
April 2019